Spirituell leben

 

Sich selbst ein Licht sein

Stiftung für integrale Friedensförderung
Autor: Gary Zemp
 

Dieser Text ist den Kindern unserer Kinder gewidmet, die sich von den Fesseln einer religiösen Konfession befreit haben, aber im Stillen auch deren Zaun vermissen, hinter dem wir heutigen Grosseltern uns als Mitglied einer Kirche verstecken konnten und uns in den Jugendjahren darin ganz wohlgefühlt haben. Bis zum Moment, an dem uns die Fremdbestimmung zu viel, die zu glaubenden Dogmen zu unglaubwürdig und die obersten Vertreter der Gemeinschaft, Kardinäle genannt, an wichtigen Festtagen am Fernsehen zu in prunkvolle Roben gekleidete Uniformierten wurden, die einen Reigen bestehend aus alten und uralten Männern aufführten. Zu guter Letzt stellten wir fest, dass sich eine grosse Diskrepanz zwischen den Aussagen des Religionsstifters (Liebe deinen Nächsten) und den Anliegen der Kirche (Macht und Einfluss) gebildet hatte.

Auf die Frage, ob jemand religiös sei, bekommt man mit grosser Wahrscheinlichkeit die Antwort, religiös nicht, eher spirituell. Unter spirituell versteht dann jeder etwas anderes. Die Eigenschaft, «religiös» zu sein, hingegen wird jemandem zugeordnet, der einer Glaubensgemeinschaft angehört, die eine gemeinsame Gottesvorstellung hat. Die Mitglieder der Gemeinschaft glauben an die Existenz dieses Gottes. Gott ist dann ein menschenähnliches Wesen, ausgerüstet mit allmächtigen Eigenschaften, gross genug, um verantwortlich für die Schöpfung des Kosmos zu sein, und klein und väterlich genug, um jederzeit als persönlicher Schutzengel für jedermann und jedefrau, für Freund und Feind zur Verfügung zu stehen. Gott und der Mensch sind dual, sind also zwei voneinander getrennte Wesen. Gott der Allmächtige wird angebetet und der Mensch als unverbesserlicher, ewiger Sünder bittet den Allmächtigen um Erbarmen. Herr, erbarme Dich unser!

Spirituell sein heisst anzuerkennen, dass es etwas gibt, das den Menschen übersteigt, das nicht fassbar ist, das als leere Fülle oder volle Leere umschrieben werden kann, dass es die alles und nichts umfassende Eine Ganzheit gibt, von der wir ein Teil sind. Es wird das All-Eine, das Eine Ganze, Tao, Brahman, Grosser Geist, Gottheit, das Absolute oder das Bewusstsein genannt. Dieses All-Eine und der Mensch sind nondual, nicht-zwei. Genauso wie die Erde, die Natur und alles, was da kreucht und fleucht, sind wir Menschen Teil des All-Einen, von der Gottheit nicht getrennt. Die erste Aufgabe des spirituellen Menschen besteht darin, diese Eine Ganzheit und unsere Nicht-Verschiedenheit, also unsere Nicht-Zweiheit anzuerkennen und auszuhalten.

Spirituell leben heisst, sein Leben auf das All-Eine, das Eine-Ganze, auszurichten.

Dieses Ausrichten geschieht in erster Linie durch Entfalten des menschlichen Bewusstseins, das sich in unserem Kulturkreis sowohl beim Individuum als auch im Kollektiven in Stufen von der archaischen über eine magische, eine mythische zur rationalen Ebene entwickelt. Mit zunehmender Achtsamkeit und ausdauerndem Üben kann der spirituelle Mensch die allumgreifende integrale Bewusstheit erreichen.

Diese Bewusstseinsentfaltung geschieht in Richtung abnehmender Egozentrik, was ein gesundes, zentriertes und kräftiges Ich voraussetzt, das uns allen als das vom Verstand errichtete Lebenszentrum bekannt ist und das uns bis zu unserem Ableben bei der freudvollen Bewältigung der alltäglichen Aufgaben dient. Dieses Ich muss stark und gut zentriert sein, damit es die durch das spirituelle Leben bedingte Selbst-Relativierung schadlos übersteht.

Als Voraussetzung für das Gelingen einer spirituellen Lebensführung ist eine grundsätzlich rezeptive, das heisst auf Empfang eingestellte, nicht wollende, sondern hinhorchende und dankbare Geisteshaltung nötig. Wir horchen mit Hilfe der Intuition, unserer Fähigkeit, in das All-Eine hineinzuhören, und tun das, was diese umfassende Fülle uns zu tun vorschlägt. Dieser Vorschlag nennt sich intuitive Einsicht. Sie ist das Ergebnis der Sicht in das Eine. Die Einsicht basiert auf einer Wahrnehmung, die das Wahrgenommene in keiner Weise bewertet oder beurteilt. Die Einsicht ist bereits der Handlungsvorschlag. Sie ist das Licht, das uns den zu gehenden Weg beleuchtet. Wir sind uns also selbst die Leuchte auf dem spirituellen Lebensweg.

Das ist eine ausserordentlich wichtige Erkenntnis. Um ein spirituelles Leben zu führen, braucht der Mensch weder einen Guru noch einen Priester, der sich als Vermittler zwischen Gott und Mensch versteht. Auch ist es absolut unnötig, Mitglied einer Kirche oder einer Organisation zu sein, die einer bestimmten Tradition verpflichtet ist.

Der spirituelle Mensch ist selbst das Licht, das ihn zum Leuchten bringt

Spiritualität als Lebensform zeigt sich in der Unbeschwertheit und Sicherheit bei der Bewältigung der alltäglichen Aufgaben. Die Herausforderungen des Lebens werden als sinnvoll erkannt, mit Gelassenheit angenommen und mit dem Ziel der Erweiterung des Bewusstseins ihrer Lösung zugeführt. Ganz besonders ergiebig ist dabei die Gestaltung der Beziehungen zwischen dem spirituellen Menschen und seinen nächsten Mitmenschen. Sie sind die Übungsfelder mit den erstaunlichsten Wirkungen.

Liebe Jugendliche, die ihr keine Ahnung mehr habt, warum es Feiertage gibt, die Auffahrt oder Ostern oder Fronleichnam heissen und die ihr euch nicht als religiös, sondern eher als spirituell empfindet: Ihr seid aufgefordert, euer Leben auf das Eine Ganze auszurichten. Ihr braucht dazu keine Autoritäten, die behaupten, dass sie wissen, wie euer Weg aussieht. Ihr selbst seid das Licht, das euch die nächsten Schritte beleuchtet.

 

 

Was ist Religiosität?

Das Wort, vom griechischen re-lego, bedeutet: das Wieder-Zusammensetzen der Teile zum ganzen System. Das Wort weiss, dass ein System ein Ganzes ist, das aus Teilen zusammengesetzt ist, die nur zusammen das Ziel des Systems erfüllen können. Es erkennt, dass sich die Teile des Systems nicht unbewusst und automatisch richtig zusammensetzen. Es erkennt, dass dies nur bewusst, nur wissend, nur erkennend, möglich ist.

Was ist Spiritualität? Das Wort, vom lateinischen spiritus, bedeutet Luft, Wind, Atem, Leben, Geist, Seele. Das Wort weiss, dass das Leben geistig, das heisst gedacht ist. Es erkennt, dass das Leben schon immer, von Anfang an, absolut, ewig gedacht ist. Es weiss, dass das Leben, das schon gedacht ist, vom Menschen zu erkennen und auf diese Weise zu er-füllen ist, das heisst voll, ganz, heil zu machen – zu heilen ist.

Was/wer ist Göttin/Gott/Götter?

Das griechische Wort thea/theos bedeutet: das was sich darstellt. Das ganze Leben stellt sich dem Menschen dar. Es stellt sich ihm auf der einen Seite partikulär (einzeln), relativ, vergänglich, von aussen, in der Aussenwelt dar. Es stellt sich ihm auf der anderen Seite universell, absolut, ewig, von innen, in seinem Innern dar.

Was ist die Lebensaufgabe jedes Menschen?

Sie besteht darin, das was sich darstellt, das ganze Leben, von innen (hermeneutisch) und von aussen (analytisch), universell und partikulär, absolut und relativ, bewusst, wahr-zu-nehmen, um alle Teile wieder richtig zusammenzusetzen. Es bedeutet, alle Teile, alle Informationen, alle Wünsche und Funktionen der Psyche (des Lebens) in Übereinstimmung zu bringen.


Gary Zemp

Gary Zemp, 1940 geboren, lebt in Gemeinschaft mit seiner Lebenspartnerin in Luzern. Vater zweier Söhne. Beobachter von Politik und Gesellschaft. Aufmerksamer Teilnehmer am laufenden Prozess des Lebens. Mitbegründer und langjähriger Co-Präsident der Integralen Politik Schweiz.

 
 
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Nichts ist wahr ohne seinen Gegensatz