«Vieles hat sich geändert, aber nichts hat sich verändert.»

 
Reflexionen zur Friedensreportage von Lea Suter, Die Enthüllung des Kriegs. 30 Jahre Widerstand gegen Grenzen, Hass und Krieg. Eine letzte Reise mit dem armenischen Friedensaktivisten Georgi Vanyan, Juli 2021. 

Autor: Jürg Theiler, im Januar 2022

 
 

Die Reportage

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Das Perpetuum Mobile der Zerstörung und der Erfüllung des Lebens

 

Lea reist mit Georgi durch das Grenzgebiet zwischen Armenien und Aserbeidschan, in dem seit 30 Jahren Krieg herrscht, und bis zum Berg Ararat im Südosten der Türkei. Sie beschreibt das Elend des Krieges, dem zu unterwerfen sich Georgi standhaft weigert. Es ist bei jedem Krieg dasselbe Grauen und das gleiche Leid, das Menschen anderen antun. Georgi versucht mit einer Formel dagegen anzutreten: «Nicht der andere ist unser Feind, der Krieg ist unser Feind.» Auch der Titel oben ist ein Zitat von Georgi. Er bezieht die Aussage auf die 30 Jahre, seit sich die Sowjetunion aufgelöst hat und die großen ethnischen Gruppen aus dem Zaren- und Sowjetreich in eine so genannte «Unabhängigkeit» entlassen wurden, die nur Schein ist. Die Wenig(er)-Besitzenden bleiben abhängig von den Mehr-/Viel-Besitzenden. In der Tat hat sich im Verlauf der Geschichte der Menschheit vieles geändert, aber nichts hat sich verändert.

 

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und kurz danach schreibt Theodor W. Adorno einen aphoristischen Text, dem er den Titel Minima Moralia, mit dem Untertitel Reflexionen aus dem beschädigten Leben, gibt. Übersetzt bedeutet der Titel Klägliche Moral. Mit dem Begriff Moral bezeichnet Adorno: Die Lehre vom richtigen Leben. Die Kritik an der systematischen Zerstörung des Lebens durch die Menschen ist messerscharf. Aber der Autor findet nicht zur Lösung. Er verliert sich auf dem Irrweg der marxistischen Vorstellung, das materielle, physische, sichtbare Sein sei die Voraussetzung für das geistige, seelisch geführte, unsichtbare Bewusstsein. In der Sprache der Philosophie und Soziologie kann der Denker das System des Lebens nicht ganz erkennen. Es/er bleibt bei Fragmenten, Teilen. Philosophische Fragmente lautet der Untertitel des vorangehenden Werkes, Dialektik der Aufklärung, das Adorno zusammen mit Max Horkheimer verfasst. Das ganze System, mit allen seinen Teilen, ist nur in sich selbst zu erkennen. Dafür ist die Sprache der Analytisch-hermeneutischen Psychologie Voraussetzung.

Wenn man die Formel von Georgi verwendet, muss man präzise wissen, was die Wörter Krieg und Feind bedeuten. Das griechische Wort, das mit Krieg übersetzt wird, ist polemos. Wörtlich bedeutet es Gegensatz. Das berichtigt die Formel einen Schritt weit: «Nicht der andere ist unser Feind, sondern der Gegensatz ist unser Feind». Nun muss man wissen, was und wo der Gegensatz ist. Es ist der Gegensatz der Psyche, griechisch psychē, von psychō, hauchen, atmen, leben. Es ist der Gegensatz des Lebens. Man muss dafür das ganze System der Psyche, des Lebens, präzise (er-)kennen. Es ist der Gegensatz zwischen den Wünschen (Bedürfnissen) und Funktionen (Mitteln) der Instinktiven, Affektiven und Instrumentellen Teilsysteme der Psyche auf der einen Seite und den Wünschen und Funktionen der Empathischen Intelligenz, der Seele, auf der andern Seite. Die ersten verfolgen wir aktiv, die zweiten lassen sich allein rezeptiv erfahren. Es ist der Gegensatz zwischen dem Aktionsmodus und dem Rezeptionsmodus, zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zwischen dem Partikulären und dem Universellen, zwischen dem Relativen und dem Absoluten, zwischen den Teilen und dem Ganzen – zwischen dem banalen und dem sakralen Leben.

Mit diesem Wissen weiß man, wo der Gegensatz ist. Er ist nicht zuerst bei den andern zu suchen. Er ist zuerst bei sich selbst zu finden. Er ist nicht zuerst in der sichtbaren Außenwelt zu erkennen und aufzulösen, die wir instinktiv, emotional und rational wahrnehmen. Er ist zuerst in der unsichtbaren, geistigen, schon gedachten Innenwelt des Lebens jedes Menschen, von diesem selbst, zu sehen und aufzulösen.

Auch das Wort Feind ist genau zu betrachten. Das griechische Wort stammt aus derselben Familie, polemios. Der Feind ist der gegenüberliegende Pol des Gegensatzpaares. Damit wird verständlich, was das Wort Feindesliebe bedeutet. Es ist die Liebe der Seele. Es die Hinwendung der Empathischen Intelligenz zu ihren Gegensätzen, zu allen Wünschen und Funktionen, die im Widerspruch zu den eigenen sind. Es ist die Hinwendung der Seele zur Gewalt und zum Zwang, zur Gier und Unersättlichkeit, zur Bequemlichkeit, zur Eitelkeit und Überheblichkeit, zum Tausch und zur Täuschung, zur Lüge und zum Betrug, zur Abhängigkeit und Sucht, zur Manipulation und Kontrolle, zur teilnahmslosen Gleichgültigkeit, in sich selbst und bei anderen. Es ist die Liebe der Seele zur System-Richtigkeit, zur System-Gerechtigkeit, zum Richtigen Leben – zur Wahrheit. Die Liebe, die Seele, allein ist in der Lage, das Leben zu erfüllen. Sie dient dem Gesamt-Ziel des Systems. Sie verwandelt die Wünsche und Funktionen der instinktiven, affektiven und instrumentellen Teilsysteme. Sie verwandelt diese so, dass sie sich in den Dienst des ganzen Lebens stellen. Der Feind und der Krieg sind dasselbe. Tatsächlich lautet die Formel: Die Auflösung des Gegensatzes ist das Ziel, der Sinn, des Lebens jedes Menschen.

Am letzten Tag der Reise, als letztes Ziel, führt Georgi Lea zum Kloster Chor Wirap, das auf einem Hügel mitten in der weiten Ebene vor dem Berg Ararat steht. Strahlend weiß ragen die Gipfel fünf Tausend Meter hoch zum Himmel, der bei der Ankunft der beiden rosafarben ist. In der hebräischen Erzählung von der Sintflut sind die Überlebenden auf diesem Berg gelandet. Dieser mythologischen Erzählung geht eine ältere in assyrischer Sprache voraus, die wir aus dem Gilgamesch Epos kennen. Sie erscheint auch in anderen Sprachen und Kulturen, zum Beispiel in Griechenland, Island, Polynesien und im nativen Amerika. Die Erzählung ist ein Archetypus. Sie beschreibt die ewige, absolute Wahrheit des Lebens. Diese drückt sich auch im Titel dieses Aufsatzes aus. Die Form des Lebens, die partikulär und von außen sichtbar ist, ändert sich andauernd. Der In-Halt – das, was dem Leben im Innern Halt, Sinn, Struktur, System gibt –, der von außen unsichtbar und allein von innen sichtbar ist, der geistig, schon immer gedacht und universell ist, ändert sich nie. Der Inhalt des Lebens stellt alle Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten vor dieselbe Alternative. Es ist die Entscheidung zwischen dem richtigen und dem falschen Leben. Es ist die Entscheidung zwischen dem Konstruktiven und dem Destruktiven, in der Umgangssprache zwischen dem Guten und dem Bösen. Es ist die Entscheidung zwischen den Wünschen und Funktionen der Seele und ihrem Gegensatz, den Informationen der Instinkte, Gefühle und Kalküle. Es ist die Entscheidung jedes einzelnen Menschen, welchem von den beiden Polen er die Führung über die andern Teile, über sein Leben, anvertraut. Es ist allein seine Entscheidung. Beim Warten auf Godot ist nicht Godot der Schuldige, sondern die Wartenden. Sie sind schuldig, weil sie nicht wissen. Sie wissen weder, was das Warten, noch was Gott bedeutet. Die Besitzer der Ressourcen – Kapital und Boden, Infrastruktur und Immobilien, instrumentelles Wissen und Können, Technologie, Macht, Gewalt und Zwang, Autorität, Position und Status, Belohnung und Bestrafung, Manipulation und Kontrolle – haben es ihnen nicht gelehrt und selbst haben sie es nicht gelernt. Es ist die Entscheidung zwischen der Unschuld und der Schuld.

Im Inhalt der Symbole des hoch aufragenden Berges, des Klosters, des rosafarbenen Himmels und der Ebene kommt alles Wissen zusammen. Bildlich verbindet der Berg die Erde mit dem Himmel, das sichtbare, partikuläre, relative, vergängliche, instinktive, emotionale und rationale Leben mit dem unsichtbaren, universellen, absoluten, ewigen, geistigen, seelischen Leben. Der Berg ist fest, karg und weiß. Das Feste ist ein Symbol für die Treue: das Wort bedeutet sprachgeschichtlich Festigkeit, Beständigkeit, Unverrückbarkeit, Ewigkeit. Das Karge ist ein Symbol für die Bescheidenheit, die Genügsamkeit. Das Weiße ist ein Symbol für die Reinheit, die etymologisch Klarheit bedeutet. Reinheit, Klarheit, ist die Fähigkeit, zwischen dem Richtigen und dem Falschen präzise unterscheiden zu können. Das ist die Bedeutung des Wortes Intelligenz. Es stammt vom Griechisch-Lateinischen inter-legō. Legō ist das Verb zu logos, System. Legō heißt: die Teile des Systems richtig zusammensetzen. Von re- legō stammen die Worte religiös und Religion. Wenn man weiß, was sie bedeuten, heißen sie: Das Wiederrichtig-Zusammensetzen-der-Teile-zum-ganzen-System. Das Kloster stellt den Versuch von Menschen dar, sich zu diesem Zweck als Kollektiv zu organisieren. Die Voraussetzungen des Sich-nach-innen-Wendens, der Bescheidenheit, der Genügsamkeit, der Auflösung des Besitzes und der Freiheit zum Opfer haben sie eingelöst. Die Voraussetzungen des Erkennens und Auflösens der Projektion, des Schattens, der Konditionierung und Kompensation, der Fragmentierung und der (Ab-)Spaltung haben sie noch nicht eingelöst.

Der Name des Klosters, Chor Wirap, ist programmatisch. Er bedeutet Tiefes Verlies. Er verweist auf eine mythologische Erzählung, in welcher Gregor, der Erleuchter, vom herrschenden Besitzer in einem tiefen Verlies 13 Jahre lang gefangen gehalten, gequält und gefoltert wird. Das Bild beschreibt, wie lange und schmerzhaft, wie einsam und ausschließlich nach innen gerichtet der Prozess der Verwandlung ist. Wie in der griechischen Mythologie ist es der Abstieg in den Hades, in die Dunkelheit. Es ist die Begegnung mit dem Schatten. Es ist das Erkennen und Zurücknehmen der Projektion. Es ist die Metamorphose. Sie nimmt das ganze Leben in Anspruch. In der Erzählung heilt der in Dunkelheit und Einsamkeit Gehaltene den Unterdrücker danach von einer unheilbaren Krankheit, und der Geheilte folgt dem Wissen des Heilenden. Gewöhnlich wird die Erzählung nach außen interpretiert. Das bedeutet fast unweigerlich, sie wird instrumentalisiert und manipuliert. Wahr ist sie in der Interpretation nach innen.

Der rosafarbene Himmel beschreibt die aufsteigende Morgenröte, Eos in griechischer und Aurora in lateinischer Sprache, und die absteigende Abendröte, mythologisch und tiefenpsychologisch die Hinwendung zur Rezeption und zur Unbewusstheit. Das Bild stellt die Auflösung der Gegensätze dar, symbolisch zwischen dem Tag und der Nacht, zwischen der Aktion und der Rezeption, zwischen dem Meinen, Glauben, Wollen, Müssen und Handeln auf der einen Seite und dem Empfangen auf der andern Seite.

Zwischen dem Kloster und dem Berg liegt die Ebene. Sie erinnert an die mythologische Erzählung von Elysion, der Ebene der Ankunft, die bis ins 2. Jahrtausend vor Christus zurückreicht. Darin beschreibt die Erzählerin/der Erzähler in den Figuren von Demeter und Persephone, Hades und Zeus die Voraussetzungen, die zur Erfüllung des Lebens führen. Niemand von den Adressaten versteht die Ausführungen. Die Ebene ist der Ankunftsort des er-füllten, ganzen, heilen Lebens, die Insel der Seligen, das Paradies. Man kann sie sich auch als Meer, als See, vorstellen. In deutscher Sprache bedeutet das Wort Seele etymologisch Die-zur-See-Gehörende. Das Feld ist geistig. Es ist gedacht. Es ist unsichtbar, grenzenlos, er-füllbar.

Nach drei Jahrzehnten des ergebnislosen Versuchs, Frieden als realistische Alternative zum Krieg zu vermitteln, nach Jahrzehnten der Bedrohung, der Verfolgung, der Verfemung, der Boykottierung, der Verletzung und Entbehrung, die Georgi klaglos auf sich nimmt, hat er eine Utopie. Das von Thomas Morus aus dem Griechisch-Lateinischen geschaffene Wort lässt sich auf unterschiedliche Arten übersetzen. Meine Liebste ist: Wie und wo ist der Garten? Georgi hat die Utopie, im Zentrum des Kaukasus ein soziales Unternehmen aufzubauen, eine Sonderzone, in die Bürger aus Aserbaidschan, Armenien und Georgien einreisen und auf einem gemeinsamen Großbauernhof arbeiten können. Wenige Monate nach der Reise mit Lea stirbt Georgi im Alter von 58 Jahren. Sein Leben war nicht dazu bestimmt, den Garten zu verwirklichen. Sein Leben, das Leben, ist dazu bestimmt, die Utopie zu denken, zu erkennen, zu wissen. Das Leben ist dazu bestimmt, den Garten zu sein.


 

DER AUTOR

Jürg Theiler, Dr. rer. pol.,
Ökonom und Tiefenpsychologe.

Jürg Theiler war in der Wissenschaft und Wirtschaft als Forscher, Lehrer, Manager und Berater tätig. In der Analytisch-hermeneutischen Psychologie verbindet er das Erkennen von aussen und von innen, das partikuläre und das universelle Wissen, das Instinktive, das Affektive, das Instrumentelle und das Empathische Wahrnehmen und Entscheiden zum ganzen Menschen, zum ganzen Leben. Er lädt Sie ein auf den Weg des Erkennens. Auf diesem Weg erkennen Sie, dass thea/theos, Göttin/Gott/Götter; pneuma, Geist; anemos, Seele; psychē, Leben; logos, System; re-legō, das Wieder-Zusammensetzen-der-Teile-zum-ganzen- System; myein, das Schliessender-Augen-und-Lippen, von dem die Begriffe Mysterium, Mythos und Mystik stammen, unterschiedliche Wörter, Bilder, Darstellungen für denselben Inhalt, für dasselbe Leben sind.
Jürg Theiler lebt und arbeitet als Autor und Berater in Zürich. Er ist Mitglied des Stiftungsrates.

Lea Suter

Lea Suter, geb. 1984,ist Stiftungsrätin bei der Stiftung für Integrale Friedensförderung, Präsidentin des Forums für Friedenskultur und Geschäftsleiterin der Gesellschaft Schweiz-UNO. Sie bringt Erfahrungen in der Schweizer Aussenpolitik und bei der UNO mit. Für ihr Projekt Peaceprints.ch ist sie in Konfliktgebieten unterwegs, wo sie Friedensförderer porträtiert. Sie befindet sich in den Ausbildungen «Multitrack Peace Mediation» und «Interreligiöse Meditation».

 
 
 
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