Nichts ist wahr ohne seinen Gegensatz

 
 

Ein Gespräch über Krieg und Frieden

Stiftung für integrale Friedensförderung
Martin Frischknecht und Jürg Theiler
 
 

Krieg und Frieden, Krankheiten und Unfälle, Krisen und Katastrophen, Verluste, Niederlagen und Erniedrigungen, Verletzung und Zerstörung sind kein Zufall. Sie sind durch das System der Psyche, des Lebens, bestimmt. Sie sind das Ergebnis des Erkennens und Nicht-Erkennens jedes einzelnen Menschen und der richtigen und falschen Entscheidungen, die daraus hervorgehen. Die Seele korrigiert die falschen Entscheidungen auf schmerzvolle Weise.

 

Der Instinkt kämpft um den Besitz des Territoriums


Martin Frischknecht: Jürg Theiler, ich möchte die Analytisch-hermeneutische Psychologie anwenden, um Einsicht in den Krieg zwischen der Ukraine und Russland zu gewinnen. Im Mittelpunkt deiner Darstellung steht die Struktur der Psyche als die Struktur des Erkennens. Sie wird von vier Intelligenzsystemen gebildet, die das Wahrnehmen und Entscheiden jedes Menschen bestimmen. Das erste ist die Instinktive Intelligenz, die wir mit den Reptilien teilen. Dabei geht es um Territorium – beim Krieg das offensichtliche Thema.

Jürg Theiler: Jedes der vier Intelligenzsysteme regelt die Organisation der Macht auf seine Weise. Der Instinkt regelt sie über den Besitz des Territoriums. Er organisiert die Macht auf der Grundlage des Rechts des Stärkeren mit den Mitteln der physischen Gewalt. Wer das Territorium besitzt, bestimmt über die Ressourcen, die zum Territorium gehören. Er bestimmt damit über den Konsum und alle anderen Privilegien.

MF: Zuerst hatten wir den Aufmarsch der Kräfte als ein Muskelspiel und gegenseitiges Anklagen.

JT: Der Instinkt rivalisiert um den Besitz des Territoriums. Zwei Parteien, Menschen oder Kollektive, kämpfen gegeneinander. Beide erheben denselben Anspruch. Der Instinkt ist hungrig, unersättlich, gierig und expansiv. Er ist nie zufrieden mit dem, was er hat. Er will immer auch, was er noch nicht hat: mehr Besitz, Konsum, Sieg, Triumph, Macht und Privilegien.

MF: Nach dem Muskelspiel brach der offene Krieg aus. Das hat viele überrascht, und es führte zu einem grotesken Angebot des Multimilliardärs Elon Musk auf Twitter: Er wolle sich im Ringkampf mit Wladimir Putin messen. Der Kampf würde entscheiden, wem die Ukraine gehöre.

JT: Das Beispiel zeigt, dass der Mechanismus auf dem Markt und in der Politik derselbe ist wie im Boxring. Zwei Rivalen messen sich im Kampf. Sie sind zum Kampf getrieben. Das Publikum kann sich sowohl mit dem Sieger wie auch mit dem Verlierer identifizieren. Was es dem Verlierer nicht verzeiht, ist, wenn dieser aufgibt und sich dem Kampf nicht wieder stellt. Der Kampf ist ein Perpetuum mobile. Wer immer den Krieg gewinnt, der Verlierer wird sich früher oder später zurückmelden und versuchen, seinerseits als Sieger aus dem Kampf hervorzugehen.

MF: Jetzt möchte ich den Fokus auf das zweite Intelligenzsystem lenken, die Affektive Intelligenz, die wir mit den Säugetieren teilen. Mit einem Mal erhebt sich eine scharfe Fragestellung: Freund oder Feind? Für mich oder gegen mich? Und man geht aufeinander los.

Die Gefühle glauben,
was sie wollen

JT: Tatsächlich geht man auf dieser Organisationsstufe nicht mehr physisch aufeinander los, sondern emotional. Eine Funktion der Gefühle ist die Beschuldigung und Bestrafung der anderen. Der Affekt versucht immer, einen Schuldigen zu finden und diesen zu bestrafen. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig.

MF: Es wird ausgegrenzt, moralisch ins Unrecht gesetzt, beide Seiten werfen der anderen Verstösse gegen die Menschlichkeit vor.

JT: Es ist ein wesentlicher Regelmechanismus der Affektiven Intelligenz, Menschen, die sich nicht an die kollektive Ordnung halten, aus dem Kollektiv auszuschliessen.

MF: Man steht sich dann feindlich gegenüber und findet keinen Anschluss mehr zueinander. Das erinnert an die Corona-Zeit.

JT: Man steht sich aggressiv gegenüber. Die Aggression ist ein weiterer Regelmechanismus der Gefühle. Sie greifen an, nicht physisch, sondern emotional. Ein wesentlicher Regelmechanismus ist zudem der Tausch und die Täuschung. Es ist für die Gefühle selbstverständlich, sich selbst und andere zu täuschen, zu lügen und zu betrügen, wenn es zum eigenen Vorteil, zum eigenen Nutzen ist. Beide Seiten wenden dieselbe Taktik an. Beide bezeichnen die andere als Lügner. Die Gefühle glauben, was sie sagen. Sie meinen, was sie wollen. Sie glauben an die Schuld, die sie dem anderen vorwerfen und bei ihm bestrafen. Sie sind selbstgerecht. Sie rechtfertigen sich permanent. Es braucht weitere Intelligenzsysteme, die hinzukommen können, um zwischen richtig und falsch, zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden zu können.

MF: Damit möchte ich mich dem dritten Intelligenzsystem zuwenden, der Instrumentellen Intelligenz. Sie spielt bei der Planung und Ausführung von Krieg eine bedeutende Rolle.

Die Rationalität berechnet nur Teile der Kosten und Nutzen

JT: Die Instrumentelle Intelligenz als drittes Organisationssystem der Macht ist rational. Rational heisst berechnend. Sie berechnet ein Kosten-Nutzen-Verhältnis (Preis-Leistungs-Verhältnis). Aber sie berücksichtigt nur die Kosten und Nutzen ihrer Auftraggeber und davon nur jene, die sie quantifizieren, messen und als Ursache-Wirkungs-Zusammenhang (Mittel-Ziel-Zusammenhang) mechanisch- technisch wiederholen, manipulieren, kontrollieren und optimieren kann. Alles, was sich nicht berechnen lässt, ignoriert sie und bezeichnet es als Zufall (Chaos). Ihre Empfehlungen und Entscheidungen berücksichtigen immer nur Teile der Kosten und Nutzen, nur Teile der von der Entscheidung betroffenen Menschen und Umwelt, nur Teile der Wünsche und Funktionen (Informationen) des Lebens. Auf dieser Grundlage teilt sie die Ressourcen ökonomisch und ökologisch – system-logisch – falsch zu. Falsch bedeutet destruktiv. Ihre Teillösungen sind nur Scheinlösungen.

MF: Wenden wir uns vor dieser düsteren Note dem vierten Intelligenzsystem zu, das du Empathische Intelligenz und Seele nennst.

Die Seele korrigiert die Entscheidungen der Instinkte, der Gefühle und der Kalküle

JT: Im Gegensatz zu den drei Intelligenzsystemen, die wir bisher betrachtet haben, ist die Empathische Intelligenz nicht aktiv, sondern rezeptiv. Im Gegensatz zu diesen ist sie nicht nach aussen, sondern nach innen gerichtet. Sie versucht nicht, ihre Bedürfnisse in der Aussenwelt zu befriedigen: zu siegen und zu triumphieren, zu besitzen und zu konsumieren, sich als Familie, Gruppe und Gemeinschaft autokratisch, hierarchisch-autoritär, bürokratisch, technokratisch, markt-demokratisch, kommunistisch, faschistisch oder feudalistisch zu organisieren und sich und das Konstrukt effizient und effektiv zu optimieren. Sie ist fähig, in der Innenwelt der Psyche, in sich selbst, die Informationen zu empfangen, welche die Seele schon immer weiss. Sie ist das Gegenteil, der Gegensatz zu dem, was die Instinkte, die Affekte und die Instrumentelle Intelligenz in deren Diensten meinen, glauben, wollen, müssen, wissen und tun.

MF: Oft hören wir die Forderung: Setzt euch doch zusammen, tut etwas, um den Frieden zu retten!

JT: Es sind die Intelligenzsysteme im Aktionsmodus, die versuchen, mit ihren Mitteln die Macht zu organisieren. Eines dieser Mittel ist, sich zusammenzusetzen, einen Deal auszuhandeln und diesen beiden Seiten als Win-win-Situation zu verkaufen. Sie argumentieren über das Kalkül, das sie als Vernunft bezeichnen und sagen: Wenn du mich tötest, töte ich dich auch. Dann haben wir beide nichts davon. Besser ist es, einen Handel zu schliessen. Dann leben beide weiter. Das ist für beide ein Gewinn. Aus den Teilsichten der Instinkte, der Gefühle und der Kalküle trifft das zu. Nur ist es mit deren Mitteln nicht möglich, sich aus dem Teufelskreis der Zerstörung zu befreien.

MF: Sagst du damit, man kann nichts tun?

JT: Und ob man etwas tun kann! Man kann sich von seiner Seele führen lassen. Man kann seiner Seele vertrauen. Seinen Instinkten, Gefühlen und Kalkülen kann man nicht vertrauen. Putin und allen anderen Führern und Verführern, die meinen, glauben, wollen, müssen und handeln, kann man nicht vertrauen. Menschen, die sich selbst bereichern, kann man nicht vertrauen. Dem Markt und den Massenmedien in dessen Diensten kann man nicht vertrauen. Der Wissenschaft und der Politik, die vom Markt geregelt sind, der Markt-Demokratie, kann man nicht vertrauen. Den anderen Organisationssystemen der Macht, die verbreitet sind, kann man nicht vertrauen.

Zur Seele zu finden, ihr zu folgen und zu vertrauen setzt voraus, das System der Psyche, die Struktur des Erkennens, präzise zuerkennen. Es erfordert, zwischen den Wünschen und Funktionen der vier Intelligenzsysteme genau zu unterscheiden. Es bedingt, das Meinen, Glauben, Wollen, Müssen und Handeln zu opfern und die Wünsche und Funktionen der Intelligenzsysteme im Aktionsmodus zu verwandeln. Es bedeutet, diese in den Dienst der Seele und damit des ganzen Lebens zu stellen: in den Dienst der Liebe, der Schönheit, der Wahrheit und des Leidens. Es erfordert, seine Seele zu sein: sanft, bescheiden, berührt und bewusst – um das Ganze (System) wissend.

 

 

Martin Frischknecht,
Edition Spuren

Martin Frischknecht ist Gründer des Verlags Edition Spuren sowie Herausgeber und Redaktor des Magazins Spuren. Zusammen mit der Stiftung für integrale Friedensförderung ermöglicht er die Publikation der Reihe Führung durch die Seele. Darin erscheinen die Publikationen der Analytisch-hermeneutischen Psychologie von Jürg Theiler seit 2013: Bewusstheit. Die Erfüllung Ihres Lebens und Führung durch die Seele. Von der Zerstörung zur Erfüllung, 2020. Der dritte Band, Der Weg des Erkennens. Zur Seele finden, erscheint demnächst


Jürg Theiler, Dr. rer. pol.,
Ökonom und Tiefenpsychologe.

Jürg Theiler, Dr. rer. pol., entwickelt die Analytisch-hermeneutische Psychologie auf der Grundlage der Analytischen Psychologie von Carl Gustav Jung und Marie-Louise von Franz. Er aktualisiert sie mit Erkenntnissen aus der Mikround Neurobiologie, der Humanistischen Psychologie, der Systemtheorie, der Zoologie, der Anthropologie und Genforschung, der Soziologie und Philosophie, der Kunst und Literatur, der Ökonomie und Ökologie, der Organisations-, Kommunikations- und Managementlehre. Die Analytischhermeneutische Psychologie verbindet das Erkennen von innen und von aussen, des Absoluten und des Relativen, und bringt sie in Übereinstimmung.


Der Weg des Erkennens – Zur Seele finden

Astrid Bühler und Jürg Theiler laden Sie ein auf den Weg des Erkennens. Astrid stellt den Weg mit den Mitteln des Theaters dar, durch Bild und Ton, durch Ausdruck und Bewegung, durch Raum und Sprache

Jürg übersetzt die Bilder und Sprachen von ihren partikulären Formen in ihren universellen Inhalt. Sie entdecken, erfahren und erkennen die Informationen auf diese Weise in sich selbst. Der Weg führt Sie vom banalen zum sakralen Leben. Er führt Sie zur Bewusstheit, zur Heilung und Erfüllung des Lebens. Der Weg verbindet Sie mit anderen Menschen zu einer geistigen Gemeinschaft. Gemeinsam sind da die Führung durch die Seele und der Austausch des Erkennens in der Sprache der Analytisch-hermeneutischen Psychologie.

Wenn Sie hingezogen sind, den Weg bis zum Ziel zu gehen, kontaktieren Sie Jürg Theiler

 
 
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