Das innere Navi

 

Wie navigiere ich im Fluss der Zeit?

Stiftung für integrale Friedensförderung
Autor: Martin Steiner
 

Mit geht es beim Lesen des Buches «Das innere Navi», als würde ich eine Betriebsanleitung anschauen für etwas, womit ich schon lange unterwegs bin. Es ist mir vertraut. Und – ich komme drauf, dass ich gewisse Knöpfe und Möglichkeiten meines Betriebssystems noch gar nie gesehen und ausprobiert habe.

 

Was sind das für Intelligenzsysteme, die uns neben der Vernunft zur Verfügung stehen?

Inspiration –
Einfälle

Intuition –
gebündelte Erfahrung

Intention –
die Kraft von Ausrichtung und Absicht

Weisheit des Herzens –
unser ethischer Kompass und unsere innere Kraftquelle

 

Trans-rational ist, was über die Ratio hinausgeht, sie aber einschliesst und nicht ausschliesst. Also keine Regression in einen prärationalen Zustand, in dem Mythen, Überzeugungen, Ideologien und Autoritäten über die Vernunft gestellt werden.

Unsere fünf Intelligenzsysteme haben ihre je eigenen Stärken und Grenzen. Die Begriffe dafür sind keineswegs austauschbar. Wir sind in der westlichen Kultur von klein an auf die Ratio ausgerichtet worden. Darin sind wir wirklich geschult und setzen sie überall ein, auch dort, wo sie überfordert ist und sich deshalb destruktiv auswirkt. Ein Beispiel: Ob etwas Sinn macht, kann unsere Ratio nicht beantworten, sie ist mit dieser Frage schlichtweg überfordert. «Ob etwas Sinn macht, fällt in den Kompetenzbereich unserer Herzensintelligenz. Das Herz weiss, spürt und reflektiert ganz unmittelbar, ob etwas das Gute und Schöne in der Welt mehrt oder nicht, ob es Sinn macht. Nicht auf die Art und Weise, auf die der rationale Verstand Sinn definiert, sondern aus der Logik des Herzens heraus. Es ist nicht an Machbarkeit oder Nutzen interessiert, sondern daran, die Würde des Lebens zu wahren.» (Vivian Dittmar, Das innere Navi, Edition Est, 2019, S. 205)

Das Herz bringt sich nicht ungefragt ein. Anders als der Verstand äussert es sich nur, wenn es von uns befragt wird. Es ist bescheiden und zurückhaltend. Aber auch das Herz kann den Verstand übertönen. Dann wissen wir zwar, was gut und schön ist, lassen aber die Machbarkeit ausser Acht.

 

Ohne oder mit der Intelligenz des Herzens

Viele Menschen sind mit ihrem Herzen nicht in Kontakt. Das ist offensichtlich. Sonst wäre das, was wir als Menschlichkeit bezeichnen, nicht so weit weg von unserem täglichen Verhalten. Das Problem des verschlossenen Herzens ist heute kein individuelles Thema, es ist ein kollektives gesellschaftliches Problem. Unser derzeitiges System belohnt konsequent jene Akteure, die gegen das agieren, was unser Herz für gut und richtig befindet. Nur ein Beispiel: Pestizide, die in der Schweiz verboten sind, werfen in anderen Ländern hohen Profit ab für eine Pharma-Industrie, die in der Schweiz ihren Sitz hat; der Preis: Menschen und Natur sterben. Ein anderes Beispiel: Wir versäumen es, Berufe adäquat zu würdigen, die einer hohen Herzensintelligenz bedürfen wie die Begleitung von Kindern oder die Pflege von Menschen.

Als positive Beispiele für das Horchen auf die Weisheit des Herzens führe ich hier die universelle Erklärung der Menschenrechte an, ebenso das deutsche Grundgesetz, das gleich im ersten Absatz die Würde des Menschen thematisiert, wie auch die Schweizer Verfassung. Auch unsere Aufmerksamkeit für den Schutz der Tiere und des Klimas ist gewachsen. Was schön, wahr und gut ist, ist in allen Herzen verankert. Was hindert uns, es zu sehen, zu spüren?

 

Schmerz oder Kontrolle?

Charles Eisenstein spricht von der «schöneren Welt, von der unser Herz weiss, dass sie möglich ist». Das Herz kann jedoch so weh tun. Deshalb verschliessen wir es zu oft, um diesen Schmerz nicht zu spüren. Das Paradox des Herzens: Es spürt den Schmerz, es tut so weh, und gleichzeitig ist es die Instanz, die diesen Schmerz heilen kann, die dieser Dunkelheit etwas entgegensetzen kann – es ist verbunden mit dem grossen Herzen des Daseins, mit Mitgefühl, mit der Liebe.

 

Inspiration

Die trans-rationalen Intelligenzsysteme fordern von uns Vertrauen und ein Leben in der Gegenwart. Die Inspiration, die Einfälle, lassen sich nicht planen, nicht verwalten, nicht kontrollieren. Ich kann mich bereit machen: still werden, leer werden, Raum aufgehen lassen um mich und die Dinge. Entspannung fördert die Inspiration ungemein. Ein verkrampftes und verbissenes Nachdenken hingegen ist Verhinderer Nummer 1. Da hat nichts anderes Platz. Und der überaktive Verstand lässt nichts gelten, was er nicht überprüfen kann.

Bei Künstlerinnen, Unternehmern und anderen kreativen Köpfen ist Inspiration beliebt, bei Wissenschaftlern eher verpönt, obwohl sie dort genauso vorkommt: Isaac Newton erkennt die Gravitation, als er in einer kontemplativen Stimmung einen Apfel fallen sieht. Brahms, Tschaikowsky, Puccini sprachen offen über höhere Kreativität. Ursus und Nadeschkin, das bekannte Schweizer Komiker-Duo, antwortet auf die Frage, woher sie ihre Ideen haben: «Die sausen im All herum und der Erste, der sie packt, hat sie.»

Ich hungere regelrecht nach Zeiten der Kontemplation, des Lesens, des Schreibens, des Seins, des Horchens, der Musse, der Meditation. Wie förderst du Momente der Inspiration in deinem Leben?

In dem Film «City of Angels» treffen sich die Engel am Abend beim Sonnenuntergang immer am Strand und lauschen der kosmischen Musik – ein wunderschönes Bild für das Aufsuchen von Räumen der Inspiration. Die trans-rationalen Intelligenzsysteme führen uns ins Horchen, ins Hören auf die innere Stimme. Und damit beginnen wir auch die Stimmen der anderen Wesen zu verstehen. Wenn wir in unseren Teams, Sitzungen und Gesprächen Momente der Stille zulassen und horchen, können uns Einfälle über das bisher Gedachte hinausführen und uns für die Zukunft öffnen. Wir brauchen sie so dringend. Wenn wir in der Vernunft steckenbleiben, gehen wir unter.

 

Eine Übung zur Inspiration: Fragen stellen statt Probleme wälzen

  1. Herausfinden, was meine Frage wirklich ist oder vor welcher Entscheidung ich gerade stehe, so konkret wie möglich.

  2. Frage stellen (aussprechen oder aufschreiben).

  3. Loslassen des Themas, mich anderem zuwenden.

  4. Aufmerksam sein, hörend, verbunden mit mir und meinen Erfahrungen.
    Die Antwort kann von überall herkommen: Jemand erzählt mir etwas und in mir leuchtet etwas auf: Ah ja! Oder die Antwort kommt als Idee, als etwas, das mir plötzlich einfällt, oder in einem Traum.

  5. Die innere Resonanz, das innere Lächeln zeigt mir: Das ist die Antwort, das ist die Richtung, der nächste Schritt, so mache ich es jetzt.

  6. Umsetzen, es tun.

 

Intuition

Oft wird alles, was nicht rational erklärt werden kann, als Intuition oder intuitiv bezeichnet. Intuition und Inspiration sind jedoch grundlegend verschieden. Intuition macht sich im Solarplexus bemerkbar (Bauchgefühl). Inspiration kommt über den Kopf: ein Licht, das einem aufgeht, ein Ein-fall, eine Ein-gebung, eine Ein-sicht, ein Geistesblitz. Die Funktion der Inspiration ist es, Neues in die Welt zu bringen. Sie dockt an die Zukunft an. Intuition bringt die gesammelte Erfahrung auf den Punkt.

Zugang zu unseren trans-rationalen Intelligenzsystemen finden wir im Modus der Gegenwärtigkeit. Das erfordert und fördert das Vertrauen in den Fluss der Dinge. Und noch etwas ist spezifisch für unsere trans-rationalen Fähigkeiten: Sie geben keine Erklärung ab, wie sie zu ihrer Lösung kommen. Die Intuition rechnet schneller als die KI die Summe unserer Erfahrungen durch, auch die nicht mehr bewussten und schlägt einen Weg vor: Lass es! Oder: Geh links. Sie ist auch nicht beleidigt, wenn wir ihr nicht folgen. Wie ein Navi rechnet sie den Weg vom neuen Ausgangsort wieder neu durch. Die Intuition gibt keine Begründung ab für ihren Vorschlag, legt den Rechenweg nicht offen. Das fordert unseren Verstand und sein Bedürfnis nach Kontrolle und Nachvollziehbarkeit ungemein heraus.

 

Die innere Ordnung

Die trans-rationalen Intelligenzsysteme setzen einen Sinn für die innere Ordnung voraus. Wie chaotisch und gefährlich und unübersichtlich war das Leben vor dem Siegeszug der Ratio. So ist es verständlich, warum wir uns als Gesellschaft so fest an diese Instanz klammern. Sachlichkeit, Kontrollierbarkeit, Erklärbarkeit – alles, was uns Sicherheit gibt oder zu geben scheint, ist mit ihr verbunden. Heute merken wir, dass wir mit dem früheren «Aberglauben» auch anderes verloren haben – wollen wir zurück? Nein. Wir wollen weiter, über die Vernunft hinaus ins Trans-Rationale und tiefer in die Wirklichkeit hinein: in die innere Ordnung.

 

Was ist meine Intention?

Stecke ich in Schwierigkeiten, frage ich mich: Wofür bin ich da? Was will ich eigentlich? Diese Frage verbindet mich mit dem Fluss des Lebens, wie er sich durch mich ausdrückt. «Dein Wille geschehe», wie es im Vaterunser heisst, und mein Wille fallen im Innersten zusammen. Dieser intuitiv erspürten Bewegung kann ich mich hingeben und tauche so wieder ein in den Fluss und die Weisheit des Augenblicks.

 

 
 

Martin Steiner

Autor

Martin Steiner lebt mit seiner Familie am Neuenburger See. Er bildet die Freiwilligen aus, die beim Tel 143 − Die Dargebotene Hand Tag und Nacht ein offenes Ohr für alle Menschen haben. Martin ist Theologe, arbeitet selbstständig als Coach und spiritueller Begleiter. «Navigieren in der Stille» nennt er die Jahresgruppe Bewusstsein, die er anbietet.

www.martinrafael.ch

 
 
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Über sich hinauswachsen