Über sich hinauswachsen

 

Neue Ressourcen für eine neue Zeit

Stiftung für integrale Friedensförderung
Autor: Gary Zemp
 

Die Probleme der Menschheit sind überwältigend und allgegenwärtig. Wir brauchen also neue geistige Ressourcen, um unseren Nachkommen eine lebenswerte Welt zu hinterlassen. Dazu kann jede und jeder von uns einen Beitrag leisten: Er besteht darin, dass wir unsere persönliche Entwicklung bewusster denn je vorantreiben, indem wir über uns hinauswachsen.

Bildlich gesprochen soll es unser Anliegen sein, im Haus des Lebens vom ersten Stock in den zweiten Stock umzuziehen. Denn hier stehen unerwartet neue Möglichkeiten bereit. In der Wohnung der zweiten Etage stellt sich ein komplett neues Lebensgefühl ein und intuitives Erkennen in Form von Einsichten wird alltäglicher.

Die Bewohner:innen der ersten Etage betrachten das Wohlergehen des Egos als Richtschnur für ihre Lebensführung. Sie tun alles, um das Überleben des Ichs als Aktivitätszentrum sicherzustellen.

Im zweiten Stock steht nicht mehr die Ich-Sicherung im Vordergrund, sondern eine wertungsfreie Wahrnehmung. Die Grundstimmung des Individuums drückt sich als Freude und Dankbarkeit aus. Der Umgang der Menschen miteinander ist von Mitgefühl geprägt. Existenzangst weicht der Zuversicht. Ermüdende Zweifel wandeln sich in strahlende Gelassenheit. Verlustängste haben dank veränderter Selbstwahrnehmung keine zersetzende Kraft mehr. Diese Gesellschaft ist geprägt von einem liebenden Wirgefühl. Angesichts des oft gewaltigen Leids und der zum Teil unnötigen Schmerzen, die viele Bewohner:innen der ersten Etage durchleben, erkennt der integral bewusste Mensch des zweiten Stockwerks, dass er alles tun muss, um das Leiden der Mitmenschen und aller übrigen Lebewesen zu lindern.

Ich war schon über fünfzig Jahre alt, als ich erste Eindrücke eines zweiten, für mich unbekannten Lebensbereichs gewann. Dieses neue Bewusstsein verlieh mir im Verlauf der Jahre vor allem grosse innere Zuversicht, ein Leben voller Dankbarkeit und eine gewisse Leichtigkeit. Ich habe später gelernt, dass der Mensch mindestens dreissig Jahre alt werden muss, bis sich die Türen zu diesem erstaunlich andersartigen Lebensbereich einen Spalt breit öffnen. Also, wenn du um die dreissig oder älter bist, öffne dich, werde still und höre deinem Herzen zu. Es zeigt dir deinen Weg.

Ich verwende dazu das folgende Bild: Der Mensch bewohnt während seiner Lebenszeit ein Haus mit sechs Wohnungen, die sich alle auf dem gleichen Stockwerk befinden. Diese Wohnungen sind verschieden gross. Je grösser sie sind, umso vielfältiger sind sie eingerichtet. Jeder Mensch beginnt mit der kleinsten Wohnung. Er wohnt in diesem Zuhause, bis es seiner Entwicklung, seinen Bedürfnissen, seinen Erfahrungen und seiner Bewusstheit nicht mehr angemessen ist. Die nächstgrössere Wohnung scheint dann die richtige zu sein.

Das Bewusstseinsmodell, das diesem Bild zugrunde liegt, trägt den Namen «Spiral Dynamics». Danach bewohnen in unserem westlichen Kulturkreis Menschen mit durchschnittlicher Bildung beim Eintreten ins Erwachsenenalter die vierte Wohnung. Die Wohnungen unterscheiden sich nicht nur in der Grösse, sondern auch im Farbton.

Die vierte Wohnung ist blau und die tiefe Gemeinsamkeit ihrer Bewohnerinnen und Bewohner ist ihr fundamentaler Glaube an eine (magische) Autorität. Mehr als die Hälfte aller Menschen entwickelt sich jedoch noch weiter, sodass sie in die fünftgrösste Wohnung (orange, aufgeklärte Rationalität) umziehen. Und nur etwa ein Viertel aller Menschen beansprucht die sechstgrösste, grüne Wohnung. Darin befinden sich die Menschen, die einsehen, dass sie ein Teil der Natur sind und dass diese zum eigenen Schutz nicht bis zum bitteren Ende ausgebeutet werden darf.

Im ersten Stock ist der Massstab des Denkens, Fühlens und Handelns das Ego, auch wenn der Einfluss dieses Zentrums mit der Grösse der Wohnung abnimmt. Das ist zum Beispiel in der Politik gut sichtbar: Alle Parteien sind der festen Überzeugung, nur ihre Position sei die richtige.

Wenn die eigene Meinung die einzig richtige ist, finden die Menschen nie zu einer gemeinsamen Lösung. Ist es nicht eher so, dass jeder Mensch das Recht haben soll, eine eigene Meinung zu vertreten, sie aber auch revidieren zu dürfen? Die Probleme, die sich die Menschheit geschaffen hat, sind nicht mehr mit den gleichen Mitteln und Methoden zu lösen, durch die sie entstanden sind. Es gibt zum Glück eine siebte Wohnung!

Sie befindet sich im gleichen Haus, liegt aber ein Stockwerk höher. Die wenigen, die fest hier wohnen, erzählen von einer besseren und weiteren Sicht. Ob in dieser oberen Wohnung wohl neue Ressourcen zu finden sind, die wir Menschen für die neue Zeit so dringend benötigen?

Ein Entwicklungsschub beginnt oft damit, dass die Frage nach der eigenen Identität – «Wer oder was bin ich?» – nicht mehr befriedigend beantwortet werden kann. Wenn du dir bewusstwirst, dass du deinen geistvollen Körper (oder deinen verkörperten Geist), den du bis dahin als dein Ich betrachtet und mit dem du dich über Jahre identifiziert hast, als Objekt sehen kannst, dann stehst du vor einer Tür, die zwar noch verschlossen ist, die du aber öffnen kannst. Denn es muss ein Subjekt existieren, ein dir unbekanntes ICH hinter deinem alten Ich: Dieses ICH hinter dem personalen Ich muss also etwas sein, das deine lieb gewordene Person, die dir bis heute als Ich-Identifikation gedient hat, betrachten kann. Deine Identität ist somit vielfältiger als die Person, für die du dich bis anhin gehalten hast. Jetzt fängst du gerade an, über dich hinauszuwachsen!

Die Neugier treibt dich an, mehr über das ICH hinter deinem Ich zu erfahren. Du übst dich täglich darin, deine Person als Objekt zu betrachten. Du siehst, kannst aber nicht gesehen werden. ICH kann meine Gedanken und meine Empfindungen sehen, nicht aber den Ursprung. Somit ergibt sich, dass ICH das Sehen, das Beobachten, das Wahrnehmen bin. Beim Üben, beim achtsamen Wahrnehmen. fällt dir etwas ganz Neues auf: Dieses Wahrnehmen hat eine unerwartete und besondere Qualität. Denn es bewertet nicht. Das Wahrnehmen im zweiten Stock ist reines, ursprüngliches «Wahr»-Nehmen: ICH bin das, was wahr-nimmt. Um diesen Qualitätsunterschied bewusst zu machen, nennen wir dieses kausale Wahrnehmen ohne Bewertung «gewahren». ICH bezeuge das Wahrgenommene, wie es ein Spiegel tut: präzise und ohne Einflussnahme. Aufgrund dieser ursprünglichen und sehr bewussten Art des Wahrnehmens hat dieses ICH mehrere Namen wie «Wahres Selbst» oder «Zeuge» oder «Spiegelgeist» oder «Bewusstsein». ICH bezeuge, ... ICH ruhe als Zeuge, ... ICH bin mir bewusst, ... ICH bin Bewusstsein.

Gewöhnungsbedürftig: Als Bewusstsein, das ICH bin, gewahre ich ... (zum Beispiel eine erfrischende Stimmung bei dir).

Es ist faszinierend zu beobachten, wie in diesem weiten Raum der Freiheit, diesem wahren Selbst, das DU bist, Gedanken und Gefühle erscheinen, die DU gewahrst, aber nicht bist. Und alle diese Objekte sind dir bewusst ohne die geringste Versuchung, sie zu kommentieren oder zu beurteilen! DU bist die geräumige Weite, die freie Lichtung, in der die Objekte kommen und gehen. Die ganze Welt, der ganze Kosmos findet hier Platz. DU bist der raumlose Raum, der keinen Anfang in der Zeit kennt, der schon da war, als dein Körper geboren wurde. «Ehe Abraham war, bin ICH.» (Joh 8,58) DU bist das Ungeborene, und was nicht geboren ist, kann auch nicht sterben. DU bist unsterblich. DU bist der reine Zeuge, das stille Gewahren, das Bewusstsein, die unendliche Offenheit, in der die Welt und ihre Ereignisse erscheinen. Sie alle kommen und gehen, genau wie die Person, die deinen Namen trägt, die ohne die geringste Erschütterung wahrnimmt, die DU aber nicht bist. DU spürst deine Unendlichkeit, dein Sein ausserhalb der Zeit, DU schöner Götterfunke. DU gewahrst das Gute und lässt es gut sein. Und DU gewahrst das Üble und lässt es übel sein. DU gewahrst die Schrecken und Ängste und Sorgen des Alltags. DU nimmst sie wahr und bist dir ihrer bewusst.


Ich war etwa 55 Jahre alt und beruflich in der komfortablen Situation, dass ich meinen Arbeitstag frei gestalten konnte. Ich begann damals eine etwa drei Jahre dauernde Gewohnheit, täglich durch den Wald zu spazieren. Ich ging in meditativer Langsamkeit. Einige wenige Male kam es vor, dass ich mich verlor. Ich war nicht mehr der vom Wald getrennte Beobachter des Waldes. Ich war der Wald.

Als ich kurz nach einer solchen Walderfahrung über das Sterben nachdachte, veränderte sich meine Sichtweise bezüglich des Sterbeprozesses. Intuitiv wurde mir klar, dass Sterben ein Prozess der Heilung, ein Prozess des Ganzwerdens, der Wiederverbindung mit etwas Grösserem ist. Gleichzeitig ist mir bewusst geworden, wie schmerzhaft und schwierig nicht nur das Gebären, sondern auch das Geborenwerden ist: Denn Geborenwerden ist für das neu inkorporierte Wesen der Beginn der Dualität, ein Prozess der Trennung.

Deine Geschichte wird mit Bestimmtheit eine ganz andere sein. Für den Umzug in die siebte Wohnung sind keine Waldspaziergänge notwendig. Vielleicht genügt es, ausdauernd zu üben.

Wer über sich hinauswächst, befreit sich von der egozentrischen Art der Wahrnehmung, die abgrenzt und ausgrenzt und so Leid erzeugt. Das ängstliche Wahrnehmen wird durch das kausale Gewahren ersetzt, das wir uns leisten können, da wir unsere Identität von unserer verletzlichen Person auf den transpersonalen raumlosen Raum verschoben haben, der keinen Anfang und kein Ende kennt, also unsterblich ist und den wir Bewusstsein oder wahres Selbst oder  im Volksmund auch Seele nennen. (Im Sinne von: Du bist eine Seele und hast einen Körper. Nicht: Du bist ein Körper und hast eine Seele) Die zweifelsfreie Sicherheit deiner neuen Identität bewirkt eine freudige, dankbare Grundstimmung, die Zuversicht ausstrahlt und die dich das Leben leichter und sorgloser leben lässt.

  • Das ist die erste und grosse neue Ressource: Die Leichtigkeit und Gelassenheit, mit der in der zweiten Etage die Lebensaufgaben bewältigt werden.

  • Die zweite grosse Ressource liegt im Erkenntnisgewinn durch Intuition. Die Intuition ist die Intelligenz, die das grosse Ganze nie aus den Augen verliert. Es geht um eine «Einsicht»“. Damit sind die Tore zur Weisheit geöffnet, einer Ressource, die wir in diesen bedrohlichen Zeiten dringend benötigen.


Ist es nicht tröstlich zu vernehmen, dass die Lösungsansätze für vermeintlich unlösbare Probleme, die wir Menschen selbst verursacht haben, in uns selbst zu finden sind? Unser Beitrag dafür ist überschaubar und bedeutet, in unserer Bewusstseinsentwicklung nicht nachzulassen und über uns, also über unsere Person hinauszuwachsen.

 

Quellennachweis

Viele Anregungen zu Impulsen habe ich bei den Autoren Ken Wilber, Eckhart Tolle und Jürg Theiler gefunden. Als besonders ergiebige Quellen erwiesen sich bei Ken Wilber „Einfach Das“, bei Eckhart Tolle „Stille spricht“ und bei Jürg Theiler „Führung durch die Seele“. Das Bewusstseinsmodell Spiral Dynamics findet in «GOTT 9.0» von Marion und Werner Küstenmacher und Tilmann Haberer eine ausgezeichnete Erklärung.


 

Gary Zemp

Impulse für Bewusste

Einsichten jenseits des Denkens 
tredition 2023, Softcover und e-book, 104 Seiten

Anregungen zur Selbstentwicklung. Die bewusste Phase beginnt mit der Frage: Wer oder was bin ich? Was ist der Sinn des Lebens? Die Antwort findest du intuitiv, indem du still bist und hineinhorchst in deine Seele, indem du wahrnimmst ohne zu urteilen, indem du jedes Ereignis annimmst, wie es ist, indem du nicht willst, sondern dich von deiner Seele führen lässt, indem du dem Leben, dir selbst, demütig, rezeptiv, hingebungsvoll vertraust, indem du das Unannehmbare annimmst, indem du dich von der Existenzangst und Gier befreist, indem du das Leben so spontan und mühelos wahrnimmst wie der Schläfer den Traum. Das ist dein Beitrag als Individuum zur Lösung der globalen Herausforderungen der Menschheit. Das ist die Integrale Intelligenz. Das ist die Wirklichkeit der Ganzheit, der Liebe und der Wahrheit.

 

 

Gary Zemp

Gary Zemp, 1940 geboren, lebt in Gemeinschaft mit seiner Lebenspartnerin in Luzern. Vater zweier Söhne. Beobachter von Politik und Gesellschaft. Aufmerksamer Teilnehmer am laufenden Prozess des Lebens. Mitbegründer und langjähriger Co-Präsident der Integralen Politik Schweiz.

 
 
Zurück
Zurück

Das innere Navi

Weiter
Weiter

175 Jahre Frieden. Und keiner feiert.