175 Jahre Frieden. Und keiner feiert.

 

Ist es übertrieben zu behaupten, dass das höchste Gut der Schweiz der Frieden ist? Dennoch ist er so sehr in Vergessenheit geraten, dass es zu seinem 175-Jahr-Jubiläum keine öffentliche Feier gibt. Nicht nur heute fällt es keinem auf, gut möglich, dass er seit 175 Jahren noch gar nie gefeiert wurde. Sieht so eine Friedensnation aus?

Stiftung für integrale Friedensförderung
Autor: Lea Suter
 

Ohne Frieden keine Demokratie

Dieses Jahr feiert die Schweiz 175 Jahre Bundesverfassung und moderne Demokratie. Darüber haben wir ganz vergessen, dass wir auch 175 Jahre Frieden in der Schweiz feiern dürften, ja müssten. Der Sonderbundkrieg 1847 war der letzte Bürgerkrieg in der Schweiz. Sieben Generationen, die ihr ganzes Leben lang die Gräuel des Kriegs im eigenen Land nicht erlebten, keine Kinder der Kriegsmaschinerie opfern mussten, ihr Zuhause nicht im Bombenhagel verloren. Wir leben bis heute auf einer Friedensinsel, während 2 Mia. Menschen von Kriegen betroffen sind und Millionen von Menschen Frieden noch gar nie erleben durften. Was für ein Jubiläum, was für ein Privileg, was für ein Geschenk! Dieser Frieden war die Grundlage, auf der sich Demokratie, Stabilität und Wohlstand, wie wir sie heute kennen, überhaupt erst entwickeln konnten. Er ist in der Präambel und im Zweckartikel der Bundesverfassung als Grundlage unserer Nation definiert. Wie konnte er nur so in Vergessenheit geraten? Warum wurde die Demokratie zur DNA, die uns alle verbindet, die gefeiert, diskutiert, kritisiert, weiterentwickelt wird. Warum Frieden nicht?

Who cares?

Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat es erschreckend deutlich gemacht: In der Schweiz ist eigentlich gar niemand zuständig für Friedensfragen. Schulen suchen nach Materialien, um über Krieg und Frieden zu sprechen, und stellen fest, es gibt nichts. Parlamentarier:innen müssen sich zu Friedensfragen äussern und finden keine Angaben in ihren Parteipapieren. Behörden wollen «etwas tun», finden aber gar kein Budget für Frieden. Bei der Benennung neuer Sitzungszimmer sucht man nach prominenten Schweizer Friedenspersönlichkeiten, doch keiner kennt Namen. Die Medien suchen vergeblich nach Pazifist:innen, um den militärischen Diskurs auszugleichen. Beim Recherchieren merken wir, es gibt gar kein Informationsportal, auf dem man sich über Kriege weltweit bilden könnte. Die Gemeinden wollen sich friedenspolitisch äussern und finden zwischen den 20 Strategien von Klima bis Kindergarten keine Strategie zum Thema Frieden. Wir müssen es zugeben, der Frieden ist uns abhandengekommen. Wir haben versagt, ihn zu pflegen. Das Einzige, was uns bleibt, ist die Empörung über den Krieg. Doch das ist nicht genug. Das ist meilenweit entfernt von einer Friedensnation, die wir sein wollen.

 

Das Friedens-Unbewusste

Ein weiterer Grund für das Schattendasein unseres Friedensbewusstseins dürfte die Schwierigkeit sein, es zu fassen, und dass wir in einer längst veralteten Friedensdefinition steckengeblieben sind. «Wir haben ja Frieden schon, deshalb brauchen wir uns nicht mehr um ihn zu kümmern.» Wir können Frieden nur in Abhängigkeit von Krieg denken. So wenig das für die Demokratie stimmt, so wenig stimmt es für den Frieden. So wenig es autoritäre Systeme braucht, um Demokratien zu fördern, so wenig braucht es Krieg, um Frieden zu fördern. Spätestens seit Johan Galtung und der Definition des Sicherheitsrats von «Sustaining Peace» wissen wir, dass es nicht reicht und nicht mehr dem heutigen Wissensstand entspricht, Frieden als Abwesenheit von Krieg zu definieren. Vielmehr besteht Frieden in der immensen Aufgabe, Kriege und Gewalt zu verhindern und ist somit als kollektiver Auftrag zu verstehen, der ein sehr breites Spektrum von Akteur:innen und Aktivitäten einbezieht.

 

Friedensaussenpolitik ist Friedensinnenpolitik

Damit ein so breites, der Realität entsprechendes Konzept von Frieden abgedeckt werden kann, muss es von allen Departementen und allen Lebensbereichen mitgetragen werden. Nur so können wir Frieden hier in der Schweiz langfristig erhalten und das maximal Mögliche zu einem Frieden weltweit beitragen. Auf die Motion von Nationalrätin Schlatter, in der sie 2022 vorschlug, eine Gesamtstrategie für Frieden zu entwickeln, antwortete der Bundesrat, das Thema sei genügend abgedeckt vom Aussendepartement. Eine erstaunliche Aussage, nachdem alle seit Monaten beobachten konnten, dass jede Schweizerin und jeder Schweizer vom Krieg in der Ukraine betroffen war. Schulen, Städte, Familien, NGOs, Behörden, Unternehmen und kulturelle Institutionen waren plötzlich mittendrin in der Auseinandersetzung mit dem Krieg. Vor fünf Jahren hat Bundesrat Cassis die Aussage geprägt: «Aussenpolitik ist Innenpolitik.» Das würde auch bedeuten: «Friedensaussenpolitik ist Friedensinnenpolitik.» Dies bedingt Infrastrukturen, Ressourcen und neue Erzählungen.

 

Friedenshaltung im Kontext von Krieg

Doch hört man heute dem Diskurs zu, hat man den Eindruck, dass Frieden hauptsächlich aus Waffenlieferungen bestehe. Ob diese sinnvoll sind oder nicht, sei an dieser Stelle dahingestellt. Sicher ist, dass militärische Interventionen nie eine Lösung, höchstens eine Notwendigkeit sein können. Sicher ist auch, dass wir alle sehr gefordert sind mit der Frage, wie der Beitrag einer Friedenshaltung zum Krieg in der Ukraine und anderswo aussehen könnte.

 

«Solange Menschen in Kriegen sterben, gibt es keine guten Kriege und keine guten Kriegsparteien.»

 

Ich möchte hier drei Ansätze hervorheben:

Diskurs und Sprache

Eine Hauptaufgabe dürfte darin bestehen, der Verengung des Diskurses und dessen starker Monopolisierung durch militärische Themen entgegenzuwirken.

  • Verengung und Vereinfachung des Diskurses, Gehässigkeit und gegenseitige Beschuldigungen schaden allem voran der Sache, also der Lösung des Konflikts. Es müsste verhindert werden, dass Themen ausgeschlossen und Personen diffamiert werden, die wichtige Kenntnisse haben und/oder über wichtige Verbindungen verfügen, die für eine möglichst schnelle Lösungsfindung wertvoll sind, in der Mediation «Konnektoren» genannt.

  • Sprache ist seit jeher ein wichtiges Kriegsinstrument. Ein sorgfältiger Umgang beim Kommunizieren und beim Konsumieren von Sprache ist elementar, um einer Eskalation der Situation und der Verhärtung von Feindbildern entgegenzuwirken.

  • Sätze wie «Der Gegner hat dämonische Züge», «Mit dem Gegner kann man nicht verhandeln», «Wir kämpfen für eine gute Sache», «Wer an unserer Berichterstattung zweifelt, ist auf der Seite des Feindes» wurden bereits im 1. Weltkrieg verwendet und werden immer wieder genutzt, um die Kriegsbereitschaft der Bevölkerung zu fördern. Die Friedenshaltung kann helfen, den Blick zu weiten, und auf auffällige Wiederholungen in Kriegsdynamik und Kriegsrhetorik hinweisen.

     

Dilemmata des Westens

Eine wichtige Aufgabe der Friedenshaltung besteht darin, die Dilemmata aufzuzeigen, die der Krieg mit sich bringt und wo er mit unseren eigenen Werten im Widerspruch steht. Eine kleine Auswahl:

  • Mit der militärischen Verteidigung des staatlichen Völkerrechts opfern wir das ebenfalls völkerrechtlich verankerte Menschenrecht (Menschenrechtskonvention 1948), insbesondere das Recht auf Leben und das Recht, nicht zu töten. Wie argumentieren wir, welches Recht (für wen) wichtiger ist?

  • Wir bestrafen Menschen mit dem Tod, die nicht verantwortlich sind für den Krieg («kollektive Todesstrafe») und die oft zwangsrekrutiert wurden. Wie passt das mit unserem rechtsstaatlichen Denken zusammen?

  • Wie müsste ein Krieg sein, damit wir sagen können, dass er sich gelohnt hat? Gelohnt für wen?

  • Wie ist eine militärische Intervention vereinbar mit Demokratie (was ist ein demokratischer Krieg?)

  • Die Militärindustrie gehört zu den grössten Klimaschädlingen. Wie lässt sich das rechtfertigen im Zusammenhang mit dem Schutz der Menschen, die am meisten durch Klimaerwärmung bedroht sind (opfern wir diese?)? Wie im Rahmen der Zielsetzung der gesamten Agenda für nachhaltige Entwicklung?

  • Können wir sicherstellen, dass das Leid, das durch Krieg produziert wird, weniger gross ist, als das Leid, das wir mit Krieg verhindern wollen?

  • Wir wollen mit militärischer Macht, Druck und Drohungen den Gegner besiegen, dafür müssen wir unsere eigenen Werte (Gewaltfreiheit, Kooperation, Win-Win, Vertrauensaufbau) temporär aufgeben. Dies stärkt im Fall des Ukrainekriegs Russlands innenpolitisches anti-westliches Narrativ («Wir haben immer gesagt, dass sie ihren Werten nicht treu sind»), schwächt die Glaubwürdigkeit von Europa als Friedenskonzept und fördert die Eskalation. Am Ende der Eskalationsspirale (Friedrich Glasl) steht nicht der Sieg, sondern «gemeinsam in den Abgrund» (Lose-Lose). Sind wir dazu bereit? Oder wann und wie durchbrechen wir die Eskalation?

Fokus Mensch

Ein weiterer Beitrag einer Friedenshaltung wäre die Bemühung, immer wieder den Fokus auf den Menschen zu legen. Solange Menschen in Kriegen sterben, gibt es keine guten Kriege und keine guten Kriegsparteien. Wir sollten deshalb immer prüfen, ob durch die gewählten Massnahmen der Nutzen aller, insbesondere der Menschen vor Ort, grösser wird. Wir sollten auf ihre Stimme, die Stimme der Benachteiligten, hören, nicht auf die lautesten Stimmen, die noch ganz andere Agenden führen können.

 

Krieg als göttliche Ordnung

Frieden ist eine Herausforderung. Für jede:n Einzelne:n von uns, für uns als Gesellschaft und für die Weltgemeinschaft. Wir sind dabei immer wieder auf starke Visionen angewiesen: die Vision von einer Welt ohne Krieg. Krieg ist nicht gottgegeben und nicht von Natur her vorherbestimmt. Dem Menschen wurden alle Fähigkeiten mitgegeben, um in Frieden zu leben. Unser Ziel sollte es sein, uns gemeinsam, jede und jeder in ihrem/seinem Umfeld und mit ihren/seinen Kompetenzen, dafür einzusetzen, dass die Vorstellung von Krieg als «göttliche Ordnung» («Die göttliche Ordnung», schweizerisches Filmdrama von 2017 zum Frauenstimmrecht) überwunden wird. So wie wir die Vorstellung überwinden mussten, dass es zur göttlichen Ordnung gehört, dass Frauen weniger Rechte haben, müssen wir auch unsere Vorstellung überwinden, dass es zur göttlichen Ordnung gehöre, dass es Krieg gibt. Unsere Vorstellungskraft bestimmt unsere Umsetzungskraft, unsere Gedanken bestimmen unser Handeln, unser Sein unser Wirken.

 

Zum Frieden beitragen – konkret

 

Die diesjährige Friedenskonferenz, am 9. August in Ilanz, widmet sich der Zukunft der Schweizerischen Friedenspolitik unter dem Titel «175 Jahre Frieden in der Schweiz. Visionen für eine aktive Friedensnation Schweiz». forumfriedenskultur.ch

 

Vom 9.-13. August findet der Ilanzer Sommer statt, die interdisziplinäre Friedenswoche, die ein breites Spektrum von militärischer Sicherheit bis individueller Konfliktlösung abdeckt und diverse Formate von Vorträgen, Weiterbildungsateliers, Filmfestival bis hin zu Wanderungen anbietet. ilanzersommer.ch.

 

Am 16. und 17. Juni treffen sich Teilnehmende aus der ganzen Schweiz am Mediationskongress zum Thema «Mediation als Schlüsselkompetenz für eine Gesellschaft im Umbruch» mit einem reichen Programm an Vorträgen, Podien, Workshops und Netzwerkgelegenheiten. mediation2023.ch

 

Eine Teilnahme bei allen drei Veranstaltungen steht allen offen.

 

 

Lea Suter

Lea Suter, geb. 1984, ist Stiftungsrätin bei der Stiftung für Integrale Friedensförderung, Präsidentin des Forums für Friedenskultur und Programmleiterin bei Pro Futuris mit Schwerpunkt Förderung von Dialogkultur und Konfliktlösungskompetenzen. Sie bringt Erfahrungen in der Schweizer Aussenpolitik und bei der UNO mit. Für ihr Projekt Peaceprints.ch ist sie in Konfliktgebieten unterwegs, wo sie Friedensförderer porträtiert. Sie hat sich kürzlich zur Friedensmediatorin weitergebildet und ist in der vierjährigen Ausbildung «Interreligiöse Meditation».

 
 
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